Vom "Armenfriedhof" zum "Sozialistenfriedhof"

Der 1881 eröffnete Städtische Gemeindefriedhof zu Friedrichsfelde stand Bürgern aller Konfessionen und sozialen Schichten offen. Hier wurden viele mittellose Menschen auf Kosten der Stadt beigesetzt. Deshalb wurde er zunächst als Armenfriedhof bekannt.

 

Um so mehr Aufsehen erregte es, als am 12. August 1900 hier der prominente sozialdemokratische Parteiführer und Reichstagsabgeordnete Wilhelm Liebknecht beigesetzt wurde. Die Presse berichtete ausführlich über die beeindruckende Beerdigung. Über fünf Stunden führte der Trauerzug quer durch Berlin, von Liebknechts Wohnung in der Charlottenburger Kantstraße nach Friedrichsfelde. 100 000 bis 150 000 Menschen gaben ihm das letzte Geleit.

Plan von Hermann Mächtig für den Friedhof Friedrichsfelde, 1887. An der mit X markierten Stelle entstand später das Rondell, an dem Wilhelm Liebknecht und weitere Sozialdemokraten bestattet wurden. Archiv Zentralfriedhof Friedrichsfelde

Wilhelm Liebknecht

29.3.1826 Gießen-7.8.1900 (Berlin-)Charlottenburg

 

Wilhelm Liebknecht wuchs in einer Gelehrtenfamilie auf. Als Student der Theologie, Philosophie und Philologie kam er in Berührung mit sozial-utopischem Gedankengut und radikalen Studentenverbindungen. Bald wurde er polizeilich verfolgt und floh nach Zürich, wo er an Fröbels Reformschule Arbeit fand. Bei Ausbruch der Februarrevolution 1848 eilte er zunächst nach Paris, beteiligte sich dann am badischen Aufstand und kam erstmals in Haft. Die Tochter des Gefängnisaufsehers, Ernestine Landolt, wurde später seine erste Ehefrau. Wegen seiner Tätigkeit im Genfer Deutschen Arbeiterverein aus der Schweiz ausgewiesen, ging er schließlich ins Londoner Exil. Dort schloss er Freundschaft mit Karl Marx und Friedrich Engels.

 

Nach über zwölf entbehrungsreichen Exiljahren kehrte er 1862 dank einer Amnestie nach Deutschland zurück. Er lebte von journalistischer Arbeit, die er möglichst mit politischer Aktivität verband - vorerst in Lassalles Allgemeinem Deutschen Arbeiterverein (ADAV). Er kämpfte besonders gegen den preußischen Militarismus und für die Verbreitung Marxscher Ideen und wurde 1865 aus Preußen ausgewiesen. Die Familie zog nach Leipzig. Dort lernte er August Bebel kennen. Beide gründeten 1866 die Sächsische Volkspartei.

 

Bebel und Liebknecht hatten 1869 entscheidenden Anteil an der Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) in Eisenach. Sie vereinigte sich 1875 in Gotha mit dem ADAV zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP). Für diese Vereinigung ging Liebknecht allerdings ideologische und taktische Kompromisse ein, die ihm scharfe Kritik von Karl Marx eintrugen.

Wilhelm Liebknecht in London um 1895. Die Neue Welt 1900

Wegen seiner antimilitaristischen Haltung und seines Bekenntnisses zur Pariser Kommune zusammen mit August Bebel 1872 des Hochverrats angeklagt, nutzte er den Prozess geschickt zur Erläuterung marxistischer Gedanken. Auch der Reichstag - dem er von 1874 mit einer Unterbrechung bis 1900 angehörte - diente ihm als Tribüne. Das galt vor allem für die Zeit des Sozialistengesetzes (1878-1890), als die Partei verboten war, die Teilnahme an Reichstagswahlen und die Reichstagsfraktion jedoch legal blieben.

Die Familie Liebknecht um 1888. In Leipzig starb 1867 Liebknechts erste Ehefrau Ernestine. Liebknecht blieb mit den beiden Töchtern Alice und Gertrud zurück. Ein Jahr später heiratete er Natalie Reh. Mit ihr hatte er fünf Söhne. Bildarchiv SAPMO-BArch Bild Y10-13198

Liebknechts ausgleichender Führungsstil trug wesentlich dazu bei, dass die Partei in den zwölf Jahren der Illegalität nicht auseinanderfiel, sondern sogar gestärkt wurde. Nach dem Ende des Sozialistengesetzes 1890 benannte die SAP sich in Sozialdemokratische Partei Deutschlands um. Wilhelm Liebknecht war Chefredakteur des Parteiorgans „Vorwärts".

Ab 1889 engagierte sich Liebknecht, der sieben Sprachen sprach, stärker auf internationaler Ebene. Er trug entscheidend zur Gründung der II. Internationale bei und pflegte intensive Kontakte in aller Welt. In der Handhabung innerparteilicher Konflikte galt ihm bis zuletzt die Einheit der Partei als ein zentrales Ziel.

Die Kränze vor der Leichenhalle bei der Bestattung Wilhelm Liebknechts. Die Wahl des konfessionsfreien Gemeindefriedhofs und die Beisetzung in der Nähe jener Unterprivilegierten, für die er sich zeitlebens eingesetzt hatte, spiegeln Weltanschauung und Ziele des bekannten Sozialdemokraten wider. Berliner Illustrirte Zeitung 1900. Landesarchiv Berlin

Nach Liebknechts Beisetzung in Friedrichsfelde fanden hier weitere prominente Sozialdemokraten ihre letzte Ruhe. Im Bewusstsein der Arbeiterbewegung wandelte sich Friedrichsfelde allmählich zum „Sozialistenfriedhof". 1909 wurden in Wilhelm Liebknechts Grab seine Frau Natalie und zwei Jahre später seine Schwiegertochter Julia, die jung verstorbene erste Frau Karl Liebknechts, bestattet.


Das Grabmal Wilhelm Liebknechts, wie es 1902 von dem Dresdener Bildhauer Heinrich May gestaltet wurde. Eisengießer und weibliche Gestalt stellen die Verbindung von Proletariat und Wissenschaft dar. Landesarchiv Berlin



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